Dass bereits seit Anfang 2021 in allen Aufzügen, die nicht ausschließlich zur Beförderung von Lasten genutzt werden, ein Zwei-Wege-Notrufsystem zur Verfügung stehen muss, sollte Installateuren und Betreibern klar sein. Im Alltag zeigt sicher allerdings, dass sich die nun im Einsatz befindlichen Notruflösungen in den meisten Fällen auf eine akustische Kommunikation mit der Außenwelt beschränken (Bild 1). Für Gehörlose oder Menschen mit Sprachbeeinträchtigungen ist es somit nicht möglich, im Notfall mit der angeschlossenen Leitzentrale zu kommunizieren. Somit verstößt das Fehlen eines Zwei-Sinne-Notrufs gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – umgangssprachlich auch Antidiskriminierungsgesetz genannt – sowie gegen mehrere Bauvorschriften und Normen. Für die Verantwortlichen kann dies weitreichende Konsequenzen haben.
Verstoß gegen Grundgesetz und UN-Behindertenrechtskonvention
Das Grundgesetz sagt eindeutig, dass niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Werden Menschen mit und ohne Behinderungen ohne zwingenden Grund unterschiedlich behandelt, verstößt dies folglich gegen das Grundgesetz sowie gegen die in Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention, die sich in den Behindertengleichstellungsgesetzen der Bundesländer wiederfindet.
Da barrierefreie Zwei-Wege-Kommunikationseinrichtungen für Aufzüge schon seit Längerem verfügbar sind, gibt es keinen zwingenden Grund für die derzeitige Benachteiligung von Menschen mit entsprechenden Einschränkungen – zumal ein visueller Notruf selbst nachträglich leicht zu installieren ist. Da es sich um eine wichtige Sicherheitseinrichtung handelt, läge allerdings auch dann kein zwingender Grund im gesetzlichen Sinne vor, wenn die Installation letztlich mit einem größeren Aufwand verbunden wäre.
Insbesondere bei öffentlich zugänglichen Gebäuden sind barrierefreie Aufzüge vorgeschrieben. Darunter fallen alle baulichen Anlagen, die nach ihrer Zweckbestimmung grundsätzlich von jedermann betreten und genutzt werden sollen. Nach der Musterbauordnung (MBO) der Argebau trifft dies beispielsweise auf Büro-, Verwaltungs- und Gerichtsgebäude zu, aber auch auf Kultur-, Sport- und Freizeitstätten, Einrichtungen des Gesundheitswesens, Verkaufs-, Gast- und Beherbergungsstätten sowie Garagen und Toilettenanlagen. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die angebotene Dienstleistung öffentlicher oder privater Natur ist oder ob sie unentgeltlich oder gegen Entgelt erbracht wird. In sämtlichen Fällen müssen die Gebäude allen Menschen die ungehinderte und selbstständige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen.
Aktuelle Baubestimmungen und Normen sind eindeutig
Die gesetzlichen Bestimmungen lassen sich bei genauer Betrachtung in den aktuellen Baubestimmungen und Normen wiederfinden. Zwar werden in der DIN 18040-1 »Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen – Teil 1: Öffentlich zugängliche Gebäude« keine speziellen Aussagen zur Notruftechnik für Aufzüge gemacht und es wird nur auf die Einhaltung der Anforderungen des Typ 2 nach DIN EN 81-70:2005-09 verwiesen. »Es handelt sich jedoch bei einem barrierefreien Aufzugnotruf um eine Zwei-Wege-Kommunikationsanlage«, betont Maynhard Schwarz, Experte für Barrierefreiheit und Brandschutz. Die allgemeinen Anforderungen zur barrierefreien Kommunikation gelten in diesem Fall also auch beim Aufzugnotruf.
Für die Vermittlung wichtiger Informationen wird hierfür schließlich das Zwei-Sinne-Prinzip verlangt. Alarme und Notsignale, die jemand nicht hören oder nicht verstehen kann, müssen gesehen oder gelesen werden können. »Bei der Erstellung der Norm wäre es möglich gewesen, eine Ausnahme für die Zwei-Wege-Kommunikation der Aufzugnotrufe zu formulieren«, erklärt Maynhard Schwarz. »Dies ist jedoch nicht erfolgt«, so der Fachingenieur für Barrierefreies Planen und Bauen, Ingenieurkammer Hessen (IngKH).
Deutschland richtet sich nach EU-Norm
Eine solche Ausnahme vom Zwei-Sinne-Prinzip für Aufzugnotrufe wird es auch in der neuen, an das EU-Recht angepassten DIN 18040-1 nicht geben. Die DIN EN 17210 »Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umwelt – Funktionale Anforderungen« ist ein teilweiser Ersatz für die nationalen Normen (DIN 18040-1:2010-10, DIN 18040-2:2011-09 und DIN 18040-3:2014-12). Entsprechend wurde die komplette Überarbeitung dieser nationalen Normen erforderlich, da das Thema »Barrierefreies Bauen« unter einem Normungsauftrag durch ein europäisches Gremium erarbeitet wurde.
Im europäischen Vorwort ist festgelegt, dass diese europäische Norm den Status einer nationalen Norm erhalten muss. Dies konnte entweder durch Veröffentlichung eines identischen Textes oder durch Anerkennung bis Juli 2021 erfolgen. In Deutschland wurde sie als DIN-Norm wörtlich übernommen. »Etwaige entgegenstehende nationale Normen müssen bis zum Januar 2024 zurückgezogen sein«, weiß Maynhard Schwarz. »Folglich darf es keine Widersprüche zu den europäischen Festlegungen in den derzeit in Erarbeitung befindlichen Neuausgaben der DIN 18040 Teil 1 bis 3 geben.«
Konkret wird in der Norm u. a. festgelegt, dass bei interaktiven Elementen – wie Gegensprechanlagen oder Notrufsystemen – die gesamte Information sowohl akustisch als auch optisch erfolgen muss. Bei den speziellen Anforderungen an Aufzüge wird sogar explizit darauf hingewiesen, dass Aufzüge von einem großen Personenkreis mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedarfen selbstständig benutzt werden sollen. Dabei wird hervorgehoben, dass nicht nur der Zugang, sondern auch eine leicht verständliche und sichere Nutzbarkeit für alle gewährleistet sein müssen. Zusätzlich zur Funktionalität bei normalem Gebrauch ist dies selbstverständlich auch im Notfall oder bei einer Evakuierung sicherzustellen.
Es wird zudem ausdrücklich hervorgehoben, dass die Gestaltung sowie die Eigenschaften der Bedienelemente des Aufzugs und der Kommunikationssysteme für die Nutzung des Aufzugs von äußerster Bedeutung sind. »Besonders im Notfall werden Sprachkommunikationssysteme für Personen mit Hör- und Sprachbeeinträchtigung zu einem Problem«, sagt Schwarz. »Schon nach dieser allgemeinen Erläuterung für barrierefreie Aufzüge müssen deshalb alternative visuelle Angebote und Hörunterstützungsanlagen vorhanden sein.«
Mehr-Sinne-Prinzip für Barrierefreiheit
Im Punkt 10.4.10 dieser DIN EN 17210 werden die konkreten Anforderungen an Notrufsysteme und Sprechverbindungen dann jedoch auch noch spezifiziert. Demnach muss im Fahrkorb ein für alle Personen entsprechend dem Mehr-Sinne-Prinzip barrierefreier Notruftaster vorhanden sein mit dem jederzeit die Verbindung zu einer Notrufzentrale hergestellt werden kann. Auch auf die verbindliche Zwei-Wege-Kommunikation wird verwiesen. Diese muss für alle Menschen nutzbar sein. In barrierefreien Aufzügen muss folglich das Mehr-Sinne-Prinzip berücksichtigt werden. Bei einer Hör- oder Sprachbeeinträchtigung ist die visuelle Kommunikation als zweiter Sinn also zwingend erforderlich.
Bei eigens für diese Zwecke konzipierten visuellen Notrufsystemen ist es auch für Menschen mit Hör- und Spracheinschränkungen möglich, bei Bedarf mit der Außenwelt zu kommunizieren. Je nach Lösung bzw. Modell erfolgt die Kommunikation zwischen der angeschlossenen Leitzentrale und der eingeschlossenen Person über ein Touch-Display oder über das eigene Smartphone. So können gehörlose oder auch stumme Menschen die Fragen der Leitzentrale beantworten – und über den Fortschritt der eingeleiteten Maßnahmen informiert werden.
Beim »Visuellen Notruf Smartphone« (VNS) vom deutschen Hersteller Telegärtner Elektronik lässt sich durch das Scannen des im Aufzug angebrachten QR-Codes das eigene Smartphone verwenden (Bild 2). Durch das Scannen verbindet sich das Handy automatisch mit dem Notruftelefon im Aufzug, sodass weder eine Mobilfunkverbindung noch eine App oder Cloud benötigt wird. Alternativ gibt es auch eine Variante mit einem berührungsempfindlichen Display, das fest im Aufzug installiert wird und auch nachträglich eingebaut werden kann (Bild 3). »In beiden Fällen werden aktuell 29 Sprachen unterstützt, sodass sich die Lösung auch für Menschen eignet, die kein oder kaum Deutsch verstehen«, erklärt Thomas Hopf, Geschäftsführer von Telegärtner Elektronik.
Rein akustische Kommunikation ist ein klarer Verstoß
»Die Reduzierung auf eine rein akustische Kommunikation ist ein klarer Verstoß gegen die gesetzlichen Vorgaben, da eine gleichwertige und selbstständige Nutzung des Aufzugs für alle Menschen so nicht gegeben ist«, lautet das Fazit von Maynhard Schwarz. »Die neuen europäischen Festlegungen lassen nun keinen Zweifel mehr daran, dass ein Zwei-Sinne-Notruf in allen öffentlich zugänglichen Aufzügen zur Pflichtausstattung gehört«, betont der Fachplaner.
Die Verantwortlichkeit und damit die Haftung für die Konstruktion und die Funktion des Notrufes liegt laut Schwarz dabei ultimativ beim Errichter des barrierefreien Aufzuges. Als verantwortlicher Installateur, Aufzugunternehmen und Betreiber sollte man die aktuellen Vorschriften und Gesetze also äußerst ernst nehmen. Vor allem, wenn es zu einer Klage oder schlimmstenfalls zu einem Schadensfall kommt, könnte dies ansonsten weitreichende Konsequenzen haben.