Wie in diesem Zusammenhang schon erwähnt, gibt es verschiedene Möglichkeiten einen Winkel zu bemessen. Standardmäßig wird, zumindest in der Elektrotechnik, der Winkel in »Altgrad« (Vollwinkel: 360 °) angegeben. Möglich wäre es auch ihn in »Neugrad« (Vollwinkel: 400 °) zu messen. Auch die dritte Möglichkeit wurde bereits kurz angesprochen und soll in dieser Folge vertieft werden. Es geht um das Bogenmaß und um den Einheitskreis.
Einheitskreis
Wie das Bild 18 zeigt, ist der Einheitskreis ein Kreis mit dem einheitslosen Radius »1«. Zeichnet man einen beliebigen Winkel (α) in diesen Kreis ein, dann ergibt sich, je nach Größe des Winkels, ein dazugehöriges Stück des Umfangs »b« (= Bogenlänge bzw. Bogenmaß). Für den Vollkreis gilt:
Dabei wird deutlich, dass sich die Bogenlänge »b« zum Umfang des Einheitskreises »U1« genauso verhält, wie der Winkel »α« zum Vollwinkel »360°«. Diese Proportion erlaubt dann auch die Umrechnung von Altgrad in das Bogenmaß und umgekehrt:
Dazu ein Beispiel: Wie groß ist das Bogenmaß, wenn der dazugehörige Winkel 50° beträgt? Lösung: Wir setzen für α den Wert »50°« ein:
Liniendiagramm
Der Verlauf der Sinuskurve im so genannten Liniendiagramm beruht darauf, dass man den Radius »1« rotieren lässt. Ausgangslage (Nulllage) ist dabei die positive X-Achse im rechtwinkligen Koordinatensystem (Bild 19). Die Rotationsrichtung ist dabei der mathematisch positive Drehsinn (entgegen Uhrzeigersinn).
Fällt man zu jedem Winkel das Lot (Y) von der Zeigerspitze auf die Waagerechte, dann bildet dabei die Länge der Lotlinie den Sinus-Funktionswert ab (Bilder 20 a, b, c):
Die Aneinanderreihung dieser Funktionswerte führt dann zur Funktionslinie (Liniendiagramm, Bild 20 d). Ordnet man zu jedem Winkel die waagerechte Länge X, die durch das Lot begrenzt wird, zu, ergibt sich der Funktionsverlauf für den Cosinus:
Man erkennt dann, dass das Liniendiagramm die gleiche Form hat, wie das des Sinus – es ist lediglich um 90° verschoben (Bild 20 e). Aus der Betrachtung der beiden Liniendiagramme für Sinus α und Cosinus α wird deutlich, dass der Werteumfang der beiden Funktionen sich auf Werte zwischen +1 und -1 begrenzt.
Tangens- und Cotangensfunktion
Betrachtet man den Verlauf der Tangens- und Cotangens-Funktionen, erkennt man, dass diese den Werteumfang von 0 bis ∞ (unendlich) im positiven wie im negativen Bereich umfassen, also alle denkbaren Werte. Des Weiteren fällt auf, dass sich die Kurvenverläufe des Cosinus und des Sinus erst nach 360° wiederholen, während die Tangens- und die Cotangenskurve bereits nach 180° wieder von vorne beginnen (Bild 21).
Leistungsdreieck und Augenblickswert
Überträgt man die Anwendung dieser Liniendiagramme – speziell die des Sinus – auf die Elektrotechnik, wird deutlich, woher z. B. die Bezeichnung eines »sinusförmigen« Wechselstromes stammt. Generell lässt sich feststellen, dass die Themen »rund um das rechtwinklige Dreieck« in den Berechnungen der Wechselstromtechnik häufig zur Anwendung kommen.
Die Berechnungsdreiecke, wie das Spannungs- und Widerstandsdreieck für Reihenschaltungen sowie das Strom- und Leitwertdreieck für Parallelschaltungen von Wechselstromwiderständen sind klassische Anwendungen für den Satz des Pythagoras und die Winkelfunktionen. Besonders häufig werden auch die Leistungsdreiecke für Wechselstromverbräuche berechnet (Bild 22).
Beispiel 1: Berechnung des Leistungsfaktors
Wie groß ist der Leistungsfaktor (cos φ) eines Wechselstrommotors, der an U = 230 V / f = 50 Hz eine Strom von 12 A aufnimmt? Die aufgenommene Wirkleistung beträgt dabei P = 2,2 kW:
Dem Leistungsdreieck entnehmen wir, dass der Quotient aus Wirk- durch Scheinleistung den cos φ ergibt:
Beispiel 2: Berechnung des Augenblickswertes
Die Formel für die Berechnung des Augenblickswertes einer sinusförmigen Wechselspannung lautet:
Hierzu muss man wissen, dass der Winkel α die indirekte Form einer Zeitangabe ist. Die waagerechte Achse im Liniendiagramm hat demzufolge die Bedeutung einer Winkelachse (wie bereits betrachtet) und zusätzlich die Bedeutung einer Zeitachse. Der Vollwinkel entspricht dabei der Periodendauer der Wechselgröße (Strom oder Spannung).
In den meisten Formelsammlungen befindet sich auch eine alternative Berechnungsformel, in der die jeweilige Zeit, die den Augenblick beschreibt, direkt eingesetzt werden muss:
Hierin ist das Produkt (ω ∙ t) der Winkel im Bogenmaß. Das erfordert also die Umstellung des Rechners auf »rad«.
In unserem Beispiel – für das wir beide Formeln anwenden wollen – beträgt die Periodendauer einer sinusförmigen Wechselspannung T = 20ms und der Spitzenwert û der Spannung ist 325V. Wie groß ist der Augenblickswert u1 der Spannung bei t1=12ms nach dem positiven Nulldurchgang?
Ausgangspunkt für unseren ersten Lösungsansatz ist die oben genannte Formel, die wir für unsere Zwecke erweitern:
An dieser Stelle ist zunächst eine Nebenrechnung erforderlich:
Nun stellen wir den Rechner wieder auf »deg« um und setzen die Zahlenwerte in die Ausgangsformel:
Für den zweiten Lösungsweg bedienen wir uns der zweiten Formel mit dem Term »ω ∙ t« (Rechner steht jetzt auf »rad«):
Selbstverständlich führt auch dieser Weg zum selben Ergebnis. Damit endet zunächst dieser Themenkomplex, der eine Vielzahl praktischer Anwendungen in der gesamten Technik findet. Auch das nächste Thema wird sich den Winkelfunktionen und dem Pythagoras widmen: Es ist die »Vektoraddition«, die z. B. auch in der Wechselstromtechnik eine große Rolle spielt. Vektoren sind gerichtete Größen, die u. A. im Bereich der Mechanik zum Addieren von Kräften genutzt werden. Auch hier möchte ich wieder vertiefend ein paar Beispielaufgaben besprechen.
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